* 42 *

42. In den Finsterhallen
Darke

Septimus legte den Dunkelschleier genau im richtigen Moment an. Als das Boot in das Auge des Strudels kippte, murmelte er »Edielk Sum«, und sofort spürte er, wie der kühle Dunkelschleier ihn überzog. Er saß perfekt wie eine zweite Haut. Was danach kam, war nicht ganz so perfekt.

Septimus wurde in den tosenden Strudel gesaugt, wie ein Stück Treibgut herumgewirbelt und in seinen Schlund hinabgezogen. Tiefer, tiefer, immer tiefer fiel er, wirbelte so schnell, dass sich alle seine Gedanken zu einem kleinen schwarzen Knäuel in seinem Gehirn verdichteten und er nur noch das Brausen des Wassers und den unerbittlichen Sog der gewaltigen Leere unter sich wahrnahm.

An diesem Punkt wäre Septimus ohne seinen Dunkelschleier ertrunken wie die meisten früheren Opfer des Strudels. Er hätte ein letztes Mal nach Luft geschnappt, hätte seine Lungen mit Wasser gefüllt und wäre durch ein Loch im Flussbett in eine große Unterwasserhöhle gezogen worden, die aus dem felsigen Grund gewaschen worden war und die Form eines dreißig Meter langen Eis hatte. Dort wäre er ein paar Wochen lang im Kreis getrieben, bis seine Knochen, einer nach dem anderen, abgefallen wären und sich zu den vielen anderen Kochen gelegt hätten, die, blank und weiß, auf dem glatten Höhlenboden verstreut waren – die einzigen Überreste derer, die der Bodenlose Strudel in all den Jahrhunderten seit dem Zweikampf der schwarzen Zauberer verschluckt hatte.

Auch der Dunkelschleier konnte es Septimus nicht ersparen, dass er durch das Loch im Flussbett gesogen wurde wie eine Nudel in einen gierigen Mund und in die Höhle darunter flutschte. Aber er schützte ihn wie eine Hülle und befähigte ihn, die schwarzmagische Kunst der Unterwassersuspendierung zu praktizieren – eine Kunst, die Atmung einzuschränken, die Simon viele Monate lang mühsam hatte üben müssen, indem er den Kopf in einen Eimer Wasser steckte, bis er sie endlich beherrschte. Als Septimus in der Unterwasserhöhle langsam im Kreis trieb, dröselten sich seine Gedanken wieder auf. Er öffnete die Augen und erkannte, dass er noch am Leben war.

Die Schwarzkunst der Unterwassersuspendierung hatte eine merkwürdig dämpfende Wirkung. Das lag daran, dass sie Ängste unterdrückte und dadurch Sauerstoff sparen half, auch wenn sich Septimus dessen gar nicht bewusst war – wie überhaupt die meisten Ausübenden dieser Kunst. Außerdem versetzte sie die Augen in die Lage, selbst in der trüben Unterwasserwelt völlig klar zu sehen, was zur Folge hatte, dass ihr Besitzer eher zu fliegen meinte als zu schwimmen. Und so stellte Septimus, als er in der kreiselnden Strömung durch die eiförmige Höhle trieb, mit Verwunderung fest, dass ihm der Aufenthalt unter Wasser richtig Spaß machte. Sein Drachenring leuchtete hell und verlieh dem Wasser ein schönes milchiges Grün, und wenn er der Höhlenwand nahe kam, brachte das Licht die Kristalle im Fels zum Glitzern.

Aber die Wirkung der Unterwassersuspendierung hält nicht ewig an. Nach mehreren langen, trägen Minuten verspürte Septimus den Drang zu atmen und wurde unruhig. Die ersten Anzeichen von Panik verdrängend, schwamm er nach oben, wo er die Wasseroberfläche und Luft zum Atmen vermutete, stieß aber mit dem Kopf so heftig gegen die Höhlendecke, dass es knackte. Jetzt ergriff ihn Panik – hier gab es keine Luft.

Er tauchte wieder etwas tiefer und schwamm, den Drachenring vor sich hin haltend, schnell weiter, den Blick nach oben gerichtet, in der Hoffnung, eine Luftglocke zu entdecken, in der er Atem schöpfen konnte. Ein einziger tiefer, herrlicher Atemzug war alles, was er brauchte ... nur einer. Er spähte so angestrengt nach oben, dass er fast die Treppe übersehen hätte, die vor ihm in den Fels gehauen war. Erst als er im Licht des Rings einen Streifen Lapislazuli bemerkte, der in die Kante einer Stufe eingesetzt war, und darüber noch einen und dann wieder einen, begriff er, dass er den Ausgang gefunden hatte. Aufgeregt hangelte er sich an den Stufen entlang, die weiter oben in einem Loch in der Felsdecke verschwanden. Mittlerweile in höchster Atemnot, zog er sich durch das Loch und tauchte japsend in der eisigen Luft der Finsterhallen auf.

Die Kälte war ein Schock. Triefend vor Nässe und mit den Zähnen klappernd, zitterte er am ganzen Leib. Bei der Vorbereitung auf seine Schwarzkunstwoche hatte er alte Beschreibungen dieses unterirdischen Ortes gelesen, den viele mittlerweile für ein bloßes Fantasiegebilde hielten, doch nun stellte er fest, dass er wirklich existierte. Was in all diesen Berichten geschildert wurde, nahm er jetzt wahr: einen modrigen Geruch von Erde, das beklemmende Gefühl, von den Felsen ringsum erdrückt zu werden, und dazu ein gespenstisches Heulen, das sich in seine Knochen zu bohren schien. Außerdem war in den Beschreibungen von einer überwältigenden Angst die Rede, doch dank dem Dunkelschleier, der ihn von Kopf bis Fuß schützte, verspürte Septimus keine Furcht – nur grenzenlose Freude darüber, dass er noch am Leben war und wieder atmen konnte.

Genüsslich nahm er noch ein paar tiefe Atemzüge, dann sah er sich um. Hinter ihm war das eiförmige Loch im Boden, durch das er aufgetaucht war – der Lapislazulistreifen der obersten Treppenstufe schimmerte im matten Licht des Drachenrings. Und vor ihm lag das Unbekannte: ein tiefe, dichte Dunkelheit. Es gab keinerlei Orientierungspunkte, nichts, wonach er sich richten konnte, nur die Ahnung eines riesigen, leeren Raums. Doch eines hatte er: Simons Rat. Und so befolgte er ihn. Er wandte sich nach links und marschierte los.

Als er langsam seinen Rhythmus fand, fiel die Panik, die ihn in den letzten Sekunden unter Wasser befallen hatte, vollends von ihm ab, und er konnte wieder klar denken. Laut Marcellus brauchte er nur die Finsterhallen zu durchqueren, bis er an den unteren Eingang des Vorzimmers zu Verlies Nummer Eins gelangte. Dort, so hatte Marcellus gesagt, würde er Alther aller Wahrscheinlichkeit nach antreffen. Er ist noch nicht lange verbannt, Lehrling. Es ist unwahrscheinlich, dass er allzu weit gewandert ist. Marcellus hatte ihm sogar den Eingang beschrieben, und zwar mit einer Genauigkeit, die Septimus vermuten ließ, dass der Alchimist ihn mit eigenen Augen gesehen hatte. Als »Portikus« hatte er ihn bezeichnet, als einen viereckigen Durchgang, der auf beiden Seiten von alten Lapislazulisäulen flankiert war. Marcellus hatte ausgerechnet, dass Septimus ungefähr sieben Meilen zu marschieren hatte, was in etwa der Luftlinie vom Bodenlosen Strudel zur Burg entsprach.

Septimus schritt kräftig aus. In diesem Tempo, so schätzte er, würde er für die sieben Meilen ungefähr zwei Stunden brauchen. Es war ein eintöniger Marsch. Er sah wenig mehr als die gestampfte Erde unter seinen Füßen, und wenn er den Ring vor sich hin hielt, sah er nur den Lichtkegel. Das war etwas verwirrend, doch die Vorfreude trieb ihn an – Alther war nahe. Bald würde er ihm gegenüberstehen und zu ihm sagen: »Ach, das sind Sie ja, Alther«, als wäre er dem Geist zufällig bei einem Spaziergang auf der Zaubererallee begegnet. Er stellte sich vor, was Alther sagen würde und wie sehr er sich freuen würde, ihn zu sehen. Um sich für diesen Augenblick zu wappnen, ging er im Kopf noch einmal den Umkehrbannzauber durch, den ihm Marcia beigebracht hatte. Er war kompliziert und musste, wie der Bannzauber selbst, haargenau eine Minute dauern und ohne Unterbrechung, Wiederholung oder Abweichung zu Ende gesprochen werden.

Septimus ging weiter. Seine Stiefel setzten dumpf auf der festen Erde auf. Er hatte das Gefühl, einen gewaltigen Raum zu durchmessen, der aber keineswegs leer war. Von allen Seiten hörte er ein klägliches Wimmern, als heulte der Wind vor Verzweiflung und Trauer. Immer wieder spürte er, wie kleine Windstöße an ihm vorbeistrichen. Manche waren warm, andere waren kalt, und wieder andere hatte etwas so Böses an sich, dass sie ihm den Atem raubten und ihn daran erinnerten, dass er an einem gefährlichen Ort war.

Nach einiger Zeit – bestimmt weit mehr als eineinhalb Stunden – kam ihm der Verdacht, dass die Finsterhallen viel größer waren, als er und Marcellus angenommen hatten. Einer von den alten Verfassern hatte sie »die endlosen Jammerpaläste« genannt. Das Jammern war Septimus nicht entgangen, doch was es mit dem »endlos« auf sich hatte, darüber er hatte noch gar nicht genauer nachgedacht. Auf jeden Fall war der Teil der Höhle, den er bereits hinter sich hatte, so groß wie ein Dutzend Pälaste – und ein Ende war noch nicht abzusehen. Mit einem Mal wurde ihm die Ungeheuerlichkeit seiner Aufgabe bewusst. Es gab keine Karten von den Finsterhallen. Alles, was er über sie wusste, beruhte auf Legenden oder den Schriften einer Handvoll Zauberer, die sich hinabgewagt und anschließend von ihren Erfahrungen berichtet hatten. Die meisten von ihnen waren bald nach ihrer Rückkehr wahnsinnig geworden – was ihre Berichte nicht unbedingt glaubwürdiger machte, dachte Septimus betrübt, während er müde einen Fuß vor den anderen setzte.

Umso größer war seine Erleichterung, als vor ihm endlich ein Orientierungspunkt aus der Finsternis auftauchte – eine große, viereckige Öffnung im Felsen, die auf beiden Seiten von Lapislazulisäulen gerahmt war. Genauso hatte ihm Marcellus den Eingang zu Verlies Nummer Eins beschrieben. Wieder bester Dinge, lief Septimus darauf zu. Jetzt brauchte er nur noch durch das Tor zu gehen und auf der anderen Seite Alther zu finden.

Im Näherkommen bemerkte er am Fuß des Portikus etwas Weißes, und als er nur noch wenige Schritte davon entfernt war, erkannte er, was es war. Ein Gerippe. Blank und vollständig weiß, bis auf einen schmalen Messingring mit einem roten Stein am kleinen Finger der linken Hand. Es saß an die Wand gelehnt und hatte den Schädel keck zur Seite geneigt, als weise es den Weg durch die Säulen.

Septimus blieb neben dem Skelett stehen, denn er hatte das Gefühl, dass es nicht recht wäre, achtlos vorüberzugehen. Es war ein kleiner Mensch gewesen, wahrscheinlich nicht größer als er selbst noch vor einem Jahr. Das Gerippe bot einen traurigen, verlorenen Anblick, und Septimus empfand Mitleid. Wer immer es gewesen sein mochte, irgendwie hatte er den Sturz in den Bodenlosen Strudel überlebt, nur um dann in einer verwunschenen, eisigen Wüste zugrunde zu gehen.

Plötzlich fegte ein Windstoß durch den Portikus, und selbst durch den Dunkelschleier spürte Septimus die Kälte. Ein Schauder überlief ihn, und er beschloss, weiterzugehen und in das Vorzimmer zu Verlies Nummer Eins zu treten. Es war an der Zeit, Alther zu suchen und das zu tun, weswegen er hier war. Er nickte dem Gerippe respektvoll zu und schritt durch den Portikus.

Das Vorzimmer zu Verlies Nummer Eins war anders, als er es erwartet hatte. Vielmehr schien es ein ebenso leerer Raum zu sein wie der, den er eben durchwandert hatte. Und keine Spur von Alther – oder irgendeinem anderen Geist. Nach den schriftlichen Quellen weilten nirgendwo auf der Welt mehr Geister als hier, hauptsächlich die Geister all derer, die im Laufe der Jahrhunderte in das Verlies Nummer Eins geworfen worden waren. Verlies Nummer Eins war vor allem deshalb so gefürchtet, weil diejenigen, die darin umkamen, später nie als Geister gesehen wurden. Sie alle waren Gefangene der Finsterhallen und mussten ihr gesamtes Geisterdasein unter der Erde verbringen, ohne jede Hoffnung auf ein Wiedersehen mit den Menschen und Orten, die sie einst geliebt hatten. Und verständlicherweise zogen es viele vor, in der Gesellschaft anderer Geister zu bleiben, als durch die »endlosen Jammerpaläste« zu streifen.

Das Vorzimmer zu Verlies Nummer Eins wurde als kreisrunder Raum beschrieben, ausgekleidet mit schwarzen Ziegeln, wie sie auch beim Bau des kleinen Kegels verwendet worden waren, der den oberirdischen Eingang zum Verlies markierte. Und wenn diese Beschreibungen zutrafen – wovon Septimus überzeugt war –, dann war er hier nie und nimmer im Vorzimmer zu Verlies Nummer Eins.

Er war der Verzweiflung nahe. Wenn er sich nicht im Vorzimmer befand, wo dann? Die Antwort war klar, er hatte sich verlaufen. Heillos verlaufen. Noch heilloser als in jener Nacht vor ein paar Jahren, als er sich mit Nicko im Wald verirrt hatte. Um nicht in Panik zu geraten, überlegte er, was Nicko in diesem Augenblick wohl vorschlagen würde. Nicko würde sagen, dass sie weitergehen müssten. Dass sie früher oder später auf das Verlies Nummer Eins stoßen müssten. Dass es nur einer Frage der Zeit wäre. Und so machte sich Septimus, Nicko in Gedanken mitnehmend, wieder auf den Weg in die Dunkelheit.

Gleich darauf wurde er mit dem Anblick dreier einfacher, viereckiger Türen belohnt, die in die glatte Felswand gesetzt waren. Er blieb stehen und überlegte, was er tun sollte. Er dachte an Simons Rat, und Marcellus Pyes Worte kamen ihm in den Sinn: Lehrling, ich bin fest davon überzeugt, dass wir ihm vertrauen können.

Septimus trat durch die linke Tür.

Ein weiterer leerer Raum und jammervolles Geheul erwarteten ihn. Er stellte sich vor, Nicko wäre an seiner Seite, und ging schnell weiter. Nicht lange, und er gelangte an zwei weitere Öffnungen wie den Portikus. Wieder nahm er die linke. Dieser Portikus führte in einen langen, gewundenen Gang, durch den ein übel riechender Wind wehte. Der Wind brüllte ihm ins Gesicht, schüttelte ihn, warf ihn gegen die Wand, aber Septimus ging unbeirrt weiter, und schließlich gelangte er aus dem Gang in einen weiteren leeren, höhlenartigen Raum. Wieder bog er nach links ab.

Eine weitere Stunde beschwerlichen Marschierens folgte. Mittlerweile hatte sich Septimus die Füße wund gelaufen und war müde, und obendrein hatte er den Eindruck, dass der Dunkelschleier sich abnutzte. Die Kälte drang ihm so tief unter die Haut, dass er gar nicht mehr aufhörte zu zittern. Und das Heulen wurde zeitweise so laut, dass er das Gefühl hatte, den Kontakt zu seinen eigenen Gedanken zu verlieren, ja sogar zu dem, was er war – zu sich selbst. Eine tiefe, dumpfe Angst sickerte in ihn ein, eine Angst, die nicht einmal der Gedanke an Nicko fernhalten konnte. Aber Septimus kämpfte sich weiter. Entweder kämpfen, so sagte er sich, oder sich hinsetzen und ebenfalls ein Haufen Knochen werden.

Schließlich tauchte wieder ein Portikus vor ihm auf. Im Näherkommen keimte erneut ein kleiner Funken Hoffnung in ihm auf. Bestimmt war das der Eingang zum Vorzimmer – er passte zu der Beschreibung. Septimus ging schneller, doch als er nicht mehr weit entfernt war, machte er eine Entdeckung, die ihn ganz nahe an den Rand der Verzweiflung brachte. Neben der Lapislazulisäule lehnte ein kleines Skelett an der Wand.

Wie angewurzelt blieb Septimus stehen. Übelkeit überkam ihn. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Gerippe neben zwei völlig gleich aussehenden Durchgängen saßen? Er trat langsam näher, bis er vor dem Skelett stand. Es war klein, zerbrechlich, und sein Schädel nickte keck in Richtung Säulen. Septimus zwang sich, seine linke Hand anzusehen. Am kleinen Finger steckte ein billiger Messingring mit einem roten Stein.

Septimus sank zu Boden – er war im Kreis gelaufen. Er lehnte sich gegen den kalten Lapislazuli und stierte verzweifelt in die Dunkelheit. Simon hatte ihn getäuscht. Marcellus war ein Narr. Er würde das Verlies Nummer Eins niemals finden. Er würde Alther niemals finden. Er würde für immer hier unten bleiben müssen, und eines Tages würde ein bedauernswerter Reisender zwei Gerippe vorfinden, die neben dem Bogen an der Wand lehnten. Jetzt verstand er, warum das Gerippe hier saß. Sein Besitzer war ebenfalls im Kreis gelaufen – wie viele Male? Septimus schaute auf und stellte fest, dass er dem Totenkopf Auge in Auge gegenübersaß. Sein Gebiss schien ihn verschwörerisch anzulächeln, die leeren Augenhöhlen zu zwinkern, aber nach der Ödnis der leeren Räume war das Gerippe für ihn wie ein Gefährte.

»Tut mir leid, dass ich es nicht geschafft habe«, sagte er zu dem Gerippe.

»Niemand schafft es allein«, kam flüsternd eine Antwort.

Septimus glaubte, seine eigenen Gedanken zu hören. Das war kein gutes Zeichen. Und dennoch fragte er, nur um den Klang einer menschlichen Stimme zu hören: »Wer ist da?«

Er meinte, eine leise Antwort zu hören, die mit dem Heulen des Windes verschmolz. »Ich.«

»Ich«, murmelte Septimus vor sich hin. »Ich höre mich selbst.«

»Nein. Du hörst mich«, sagte das Flüstern.

Septimus sah den Totenkopf neben sich an, und der Totenkopf erwiderte spöttisch seinen Blick.

»Bist du das?«

»Ich war es«, lautete die Antwort. »Jetzt nicht mehr. Jetzt ist es ein Gerippe. Ich bin das.«

Und nun musste Septimus zum ersten Mal, seit er die Annie verlassen hatte, lächeln. Eine kleine Gestalt erschien vor ihm – der Geist eines Mädchens, das nach seiner Schätzung nicht älter als zehn war. Es sah aus wie eine Miniaturausgabe von Jannit Maarten und war genauso drahtig und trug Jannits Arbeitskleidung im Kleinformat – einen derben Seemannskittel und abgeschnittene Hosen, dazu einen kleinen, festen Zopf, der ihr auf den Rücken baumelte. Septimus freute sich über ihren Anblick beinahe ebenso, wie er sich über Alther gefreut hätte.

»Siehst du mich jetzt?«, fragte sie und neigte den Kopf zur Seite, genau wie das Gerippe.

»Ja, ich sehe dich.«

»Und ich dich jetzt auch. Aber erst, seit du gesprochen hast. Du siehst... komisch aus.« Der Geist streckte ihm eine Hand hin, die, wie Septimus sehen konnte, früher sehr schmutzig gewesen sein musste. »Du musst aufstehen. Wenn du jetzt nicht aufstehst, stehst du nie wieder auf. So wie ich. Los.«

Müde erhob sich Septimus.

Der Geist schaute aufgeregt zu ihm auf. »Du bist mein erster Lebender. Ich habe vom Ufer aus zugesehen. Ich habe gesehen, wie dich diese bösen Leute ausgesetzt haben. Ich habe gesehen, wie es dich hineingezogen hat.« Sie plapperte drauflos wie ein lebendiges Mädchen, das Nachholbedarf hatte. »Ich bin dir gefolgt.« Sie sah seinen fragenden Blick. »Ja, durch den Strudel. Es war für mich nicht das erste Mal.«

Septimus hatte das Gefühl, dass er seine Gefährten an Bord der Annie verteidigen musste. »Sie haben mich nicht ausgesetzt. Ich bin freiwillig hier, denn ich muss einen Geist finden. Sein Name ist Alther Mella. Er trägt das Gewand eines Außergewöhnlichen Zauberers mit einem Blutfleck über dem Herzen. Er ist groß, hat weißes Haar und einen Pferdeschwanz. Kennst du ihn?«

»Nein«, antwortete das Mädchen in entrüstetem Ton. »Die Geister hier sind böse. Warum sollte ich einen von ihnen kennenlernen wollen? Ich bin an diesen grässlichen Ort nur zurückgekehrt, damit ich dich retten kann. Komm, ich zeige dir, wie du hinauskommst.«

Septimus musste seine ganze Willenskraft aufbieten, um ihr Angebot abzulehnen. »Nein danke«, sagte er mit Bedauern.

»Das ist aber nicht nett! Ich bin extra hergekommen, um dich zu retten!« Sie stampfte mit dem Fuß auf.

»Ja, ich weiß«, erwiderte Septimus leicht gereizt. Er war auf einiges gefasst gewesen, aber dass er in den Finsterhallen an ein schlecht gelauntes kleines Mädchen geraten würde, damit hatte er nicht gerechnet. »Hör zu, wenn du mich wirklich retten willst, musst du mir den Weg zum Verlies Nummer Eins zeigen. Kennst du den Weg?«

»Natürlich«, sagte der Mädchengeist.

»Würdest du ihn mir bitte zeigen?«

»Nein. Warum sollte ich? Das ist ein grauenvoller Ort. Ich mag ihn nicht.«

Septimus begriff, dass sie ihn in der Hand hatte. Er holte tief Luft und zählte bis zehn. Er konnte es sich nicht leisten, etwas Falsches zu sagen. Irgendwie musste er sie dazu bringen, ihm den Weg zu Verlies Nummer Eins zu zeigen.

Plötzlich streckte das Mädchen die Hand nach ihm aus, und er fühlte den kühlen Hauch seiner Berührung über dem Drachenring. »Der ist schön. Ich habe auch einen Ring.« Sie wackelte mit ihrem kleinen Finger, an dem der wertlose Messingring steckte. »Aber er ist nicht so schön wie deiner.«

Septimus wusste nicht recht, ob er zustimmen sollte oder nicht, also schwieg er.

Der Mädchengeist sah ernst zu ihm auf. »Dein schöner Drachenring. Du trägst ihn an der rechten Hand.«

»Ja.«

»An deiner rechten Hand«, wiederholte sie.

»Ja doch, ich weiß«, brauste Septimus auf. Er hatte genug von dem Geplapper über Ringe.

Und dann sagte sie zu seiner Bestürzung: »Du bist ein dummer Junge. Du willst hierbleiben, aber ich nicht. Ich gehe jetzt. Leb wohl.«

Und fort war sie.

Septimus war wieder allein. Der kleine Totenkopf schaute zu ihm auf und grinste.

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